Die Bildungsreform Karls des Großen
Karl der Große (768-814),
König der Franken und ab 800 der erste westliche Kaiser des
Mittelalters, war nicht nur ein unermüdlicher Feldherr, der die
heidnischen Sachsen mit Feuer und Schwert bekriegte. Er war auch ein
wissbegieriger und kultivierter Herrscher. An seinem Hof tummelten
sich die bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit und brachten eine
Bildungsrevolution ins Rollen, die die Grundlagen der europäischen
Wissenschaftskultur legte. Vor allem die Studien des klassischen
Lateins, der antiken Autoren und der Kirchenväter waren ihm – der
selbst kaum lesen und schreiben konnte – ein Anliegen ersten
Ranges.
Karl der Große in einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, England. (Quelle: British Library, Egerton 3028, f. 89) |
Warum war Karl der Große
so vehement auf die Förderung der Bildung in seinem Reich bedacht,
dass man die unter seiner Ägide angestoßene Kulturblüte auch als
„Karolingische Renaissance“ bezeichnet hat? Was waren das für
Männer, mit denen Karl sich gern umgab und die er in gelehrte
Gespräche verwickelte? Und welche Bedeutung hatte Karls
Bildungsreform für die europäische Intellektualität der
nachfolgenden Jahrhunderte?
Gelehrte Köpfe an Karls Hof
Um
das ambitionierte Bildungsprojekt in seinem Reich zu realisieren,
bedurfte der König zunächst der dafür nötigen Experten. Aus
vielen Teilen Europas lud Karl der Große Gelehrte an seinen Hof:
Angelsachsen waren darunter, aber auch Westgoten, Langobarden und
Iren, die in ihren Heimatländern hervorragende Bildungskarrieren
absolviert hatten. Leute aus seinem eigenen Reich, dem fränkischen,
waren nur wenige vertreten. Eine Ausnahme ist Einhard, der dem König
eine ausgezeichnete Biografie widmete, die Vita Karoli Magni.
Petrus
von Pisa war ein solcher 'ausländischer' Gelehrter, der 774 an den
Hof Karls des Großen kam. In Pisa hatte er bereits als Lateinlehrer
gewirkt und nun, im Frankenreich, gab er dem König Stunden in der
lingua latina. Zu
nennen ist ferner der Langobarde Paulus Diaconus, der 782 an den Hof
kam, und der als Historiker mit seiner „Geschichte der Langobarden“
(Historia gentis Langobardorum)
Berühmtheit erlangte.
Im Frankenreich fehlte eine derartige kulturelle Elite noch
weitgehend. Die antike Bildung war dort während der Spätphase des
Merowingerreiches größtenteils zusammengebrochen. Das antike
Latein, die Sprache der Gelehrten, in welcher zur Zeit Karls des
Großen sämtliche Texte abgefasst wurden und in der sich die
Intellektuellen in ganz Westeuropa austauschen konnten, war keine
Alltagssprache mehr.
Die einfachen Menschen des Frühmittelalters unterhielten sich in den
jeweiligen Vulgärsprachen (Volkssprachen), aus denen unsere modernen
sprachen wie das Italienische und das Französische hervorgegangen
sind. Das Privileg, Latein erlernen zu dürfen, stand nur einer
kleinen Minderheit von zumeist Geistlichen offen.
Alkuin, die Speerspitze der Bildungsoffensive
Der einflussreichste Gelehrte an Karls Hof war ein Angelsachse mit
dem Namen Alhwin, der sich selbst aber Albinus oder Alkuin nannte. Im
Jahr 730 geboren, stammte er aus dem britischen Königreich
Northumbrien und war Abkömmling einer adeligen Familie. Er ging zum
Studium an die renommierte bischöfliche Schule von York, wo er eine
umfassende Ausbildung erhielt – schließlich übertrug man ihm
sogar die Leitung dieser Bildungsanstalt. Latein wurde in Britannien
noch in einer reineren Form gepflegt, weshalb Alkuin in der Kultivierung und Verbreitung dieser Sprache einer der maßgeblichen Vorreiter an
Karls Hof war.
Karl der Große lernte den etwa 50-jährigen Alkuin bei einem
Aufenthalt in Parma im März 781 kennen. Der König war sogleich von
dessen Intellekt und Beredsamkeit beeindruckt, sodass er ihn einlud,
eine angesehen Position an seinem Hof anzunehmen. Als Dank für seine
Zusage erhielt Alkuin die beiden Abteien Ferrières und Saint-Loup in
Troyes, die die materielle Grundlage für seine Forschungen
bildeten. 796 übertrug Karl der Große ihm sogar die Leitung des
bedeutenden Klosters St. Martin in Tours.
Alkuin fertigte an Karls Hof eine Bibelausgabe an, die er von
Barbarismen befreite und ihr eine neue Gestalt in gutem Latein gab.
Als Karl der Große ab 782 seine fast ständige Residenz in Aachen
nahm, baute Alkuin dort eine Hofschule auf.
Der Frankenkönig schätzte den Gelehrten auch als Gesellschafter,
der ihn bei der Jagd oder beim Baden in den heißen Quellen von
Aachen begleitete. Alkuin beherrschte ein tadelloses Latein,
beschäftigte sich mit den antiken Autoren wie Vergil und schrieb
Gedichte. Zudem könnte man Alkuin heute als Pazifisten bezeichnen:
Karl bat ihn öfter, ihn auf seinen Kriegszügen zu begleiten, aber
Alkuin lehnte ab – er mochte den schrecklichen Waffenlärm nicht
hören.
Sauberes Latein: Das Gebot der Stunde
Die Gottesdienste wurden im Frankenreich seit je her in Latein
abgehalten. Was aber, wenn die Priester – oft ohne höhere
Ausbildung – die Liturgie und die heiligen Worte durch falsches
Latein verhunzten? Für Karl den Großen ist klar: Ohne
einheitliches, sauberes Latein kann das Wort Gottes in seinem Reich
nicht ordnungsgemäß verbreitet werden. Die Bildungsoffensive Karls
des Großen und seiner Hofgelehrten verfolgte also vor allem das
Ziel, diesem Notstand abzuhelfen und Reichsweit für ein gepflegtes
Latein zu sorgen, mit der die Liturgie fehlerfrei und einheitlich
abgehalten werden konnte.
Es konnte doch nicht angehen, dass ein Priester den Säugling mit den
Worten taufte: „Im Namen Vaterland und Tochter und des heiligen
Geistes“ (in nomine patria et filia et spiritus sancti): So
jedenfalls soll es der Apostel Bonifatius um 750 in Bayern erlebt
haben.
So schrieb denn der Historiker Einhard in seiner Vita Karoli Magni:
„Auf die Verbesserung des Lesens und Singens in der Kirche wandte er [Karl] große Sorgfalt auf.“ (Zitiert nach Weinfurter, Karl der Große, S. 179).
Zudem bereitete der regional unterschiedliche Gebrauch des
Lateinischen Probleme beim wissenschaftlichen Austausch: So konnte
das aquitanische Latein sich durch lokale Einfärbungen stark vom
Latein der britischen Inseln unterscheiden.
Doch nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift sollte im Reich
vereinheitlicht werden. So wurde am Hofe Karls eine schlichte, gut
leserliche und rasch zu schreibende Schrift entwickelt, die so
genannte Karolingische Minuskel. Die Kleinbuchstaben unserer modernen
Schrift (wie der Times-Schriften) gehen auf die im 8. Jahrhundert im
Frankenreich entwickelten Lettern zurück.
Das Buch Exodus, verfasst in der Karolingischen Minuskel. (Quelle: Wikimedia Commons) |
Mit der einheitlichen Schrift ließen sich neue Ideen mit Rückgriff auf die Antike leichter im ganzen Reich verbreiten. Sie sollte endlich für Einheitlichkeit sorgen: Bis dato hatte eine Vielzahl unterschiedlicher Schriften existiert, die nicht in allen Teilen des Reiches gleichermaßen gelesen werden konnten. Damit war nun Schluss.
Mühsames Abschreiben: Die Überlieferung alten Wissens
Besondere Anerkennung verdient Karls Bildungsreform auch deshalb,
weil wir ihr die Rettung antiken Wissens in unsere Zeit verdanken.
Die Schriften von Caesar, Cicero, Vergil und Horaz wären heute
wahrscheinlich nicht mehr bekannt, hätten sich vor 1200 Jahren nicht
eifrige Gelehrte daran gemacht, die Texte zu kopieren und so für die
Nachwelt zu konservieren.
Denn die Schriften der Antike waren auf vergänglichem Papyrus
geschrieben, das mit der Zeit verfällt. Diese Schriften kopierten
die Gelehrten im Frankenreich auf das sehr teure Pergament. Der
Beschreibstoff, für deren Beschaffung eine umfangreiche
Viehwirtschaft vorausgesetzt wird, wurde aus den Häuten von Schafen,
Rindern oder Ziegen hergestellt. Der Vorteil gegenüber Papyrus: Es
ist nahezu ewig haltbar. Die alten Texte wurden also auf langlebiges
Pergament übertragen und so bis in unsere Zeit hinübergerettet.
Schreibender Mönch in einer spätmittelalterlichen Initiale. (Quelle: British Library, Arundel 74, f. 2v) |
Karl der Große ließ ferner eine Reihe bedeutender Bücher
beschaffen, die als Grundlage der Bildungsreform dienen sollten. So
fragte er 774 bei Papst Hadrian I. an, ob dieser ihm eine
Kirchenrechtssammlung überlassen möge, die der Mönch Dionysius
Exiguus im 6. Jahrhundert angefertigt hatte. Der Papst hatte das Werk
eigenhändig bearbeitet und erweitert. Die deshalb als
Dionysio-Hadriana bezeichnete Schrift ließ er Karl dem Großen
senden.
Um die Liturgie im Karolingerreich zu vereinheitlichen, ließ Karl
der Große sich zudem ein so genanntes Sakramentar, also ein
Messbuch, zusenden, das einst von Papst Gregor dem Großen
niedergeschrieben worden war. Auch die Ordensregel des Benedikt von
Nursia, die die Grundlage des benediktinischen Mönchtums bildete,
ließ der bildungshungrige König sich beschaffen.
Karl der Große bemühte sich ständig um Büchernachschub: So wuchs seine
Hofbibliothek im Laufe der Zeit zu einer beträchtlichen Sammlung
heran. An antiken Autoren waren Cicero und Sallust, Terenz, Martial
und viele weitere sehr gefragt: Sie wurden eifrig gelesen,
kommentiert und kopiert. Zudem wurden aber auch die Kirchenväter
studiert: Augustinus, Hieronymus, Gregor der Große und Ambrosius.
Und auch die Klassiker der Geschichtsschreibung wurden geradezu
verschlungen: Orosius, Eusebius, und Flavius Josephus gehörten
ebenso dazu wie Gregor von Tours.
Eine neue Bildungskultur
An Karls Hof wurde der antike Bildungskanon der artes liberales,
der Sieben Freien Künste neu aufleben lassen. Darunter fielen
das so genannte trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) und
das quadrivium (Musik, Geometrie, Arithmetik und Astronomie).
Als 'frei' wurden diese Künste deshalb bezeichnet, weil sie
unabhängig von 'Erwerbsarbeit' betrieben wurden.
Die Sieben Freien Künste umgeben die personifizierte Philosophie. Handschrift um 1180. (Quelle: Wikimedia Commons, Dnalor_1, CC-BY-SA 3.0) |
Auch seine Kinder hielt Karl der Große an, sich in den artes
liberales unterrichten zu lassen. Er selbst erhielt von Alkuin
Unterricht in Rhetorik und Dialektik sowie in Astronomie. Der
gelehrte Angelsachse gründete außerdem zahlreiche Schulen im Reich,
so in Osnabrück, Fulda, Metz, Lyon, Tours, Worms, Regensburg, Mainz
und Würzburg.
In den Schulen, die in Klöstern und Bischofskirchen angelegt wurden,
sollten Jungen eine grundlegende Ausbildung erhalten und mit den
klassischen Texten und Latein ausgestattet werden. Die dort ausgebildeten Mönche und Kleriker sorgten zudem durch
Abschreibetätigkeit für eine Verbreitung der Bücher und somit der
Bildung (Der Buchdruck war ja noch nicht erfunden, daher musste jedes
Buch zum Anfertigen einer Kopie per Hand abgeschrieben werden).
Rhetorik und Dialektik hatten dabei nicht nur das Ziel der
Wiederbelebung der klassischen lateinischen Sprache, sondern dienten
auch der Schulung eines kritischen Denkens, beispielsweise am
Beispiel des großen Philosophen Aristoteles. Fragen wurden gestellt:
Warum war ein Sachverhalt, wie er war? Welche Intention vertrat ein
Autor mit seiner Aussage? Und sind wirklich alle Aspekte darin
berücksichtigt?
Die spezifische Intellektualität Europas mit ihrer Differenzierung,
Systematisierung und logischer Schlussfolgerung mittels kritischer
Fragestellung, die später in den Universitäten weiterentwickelt
wurde, fand in der Bildungsreform Karls des Großen ihren Ursprung.
Wir dürfen uns Karl den Großen selbst als einen sehr neugierigen
und wissensdurstigen Menschen vorstellen, der sich in dem
intellektuellen Klima seines Hofes durchaus wohl fühlte. Dort
diskutierte man über philosophische Fragen: Was ist das Nichts?
Wurde auch dieses von Gott geschaffen und existiert daher doch
irgendwie in der Welt?
Derartige Fragen führten nicht ins 'Nichts': Sie erweiterten den
Horizont und schufen die Grundlagen des europäischen
Wissenschaftsgedankens. Dinge nicht als selbstverständlich
hinzunehmen, sie zu hinterfragen, ihnen auf den Grund zu gehen. Auch
althergebrachtes Wissen sollte immer wieder neu geprüft und
gegebenenfalls korrigiert werden. An Karls Hof wurde ein forschender
Intellekt entwickelt, eine neue Mentalität des Nachdenkens und
Ergründens.
Das Mittelalter erscheint unter dem Aspekt der Bildungsreform Karls
des Großen nicht als eine dunkle Epoche, sondern als eine Zeit des
Aufbruchs zu neuen intellektuellen Ufern, als ein früher Versuch
einer wissenschaftlichen Erfassung der Welt.
Das Credo am Hofe Karls des Großen lautete: „Erst kommt das
Wissen, dann das Tun.“ Bis heute hat dieser Ausspruch nichts an
Aktualität verloren.
Becher, Matthias: Karl der Große. Sonderausg. München 2008.
Fried, Johannes: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. München 2011.
Schmeidler, Carl: Die Hofschule und die Hof-Akademie Karls des Großen. Breslau 1872.
Weinfurter, Stefan: Karl der Große. Der heilige Barbar. München, Berlin 2013.
Literatur
Bayac, Jacques Delpierre de: Karl der Große. Leben und Zeit. Herrsching 1986.Becher, Matthias: Karl der Große. Sonderausg. München 2008.
Fried, Johannes: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. München 2011.
Schmeidler, Carl: Die Hofschule und die Hof-Akademie Karls des Großen. Breslau 1872.
Weinfurter, Stefan: Karl der Große. Der heilige Barbar. München, Berlin 2013.
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